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Zwänge: Zwanghaftes Denken

Ausgiebiges Grübeln, im Kreis denken und an einzelnen Gedanken haften bleiben, ist nicht per se ein pathologisches Phänomen. Bei gesunden Menschen, werden dysfunktionale oder absurde Gedanken als Ausschuss aussortiert. Bei den Tausenden von Gedanken, die wir haben können, geschieht dies im Normalfall ganz automatisch. Menschen mit einer Zwangserkrankung, haben jedoch das Problem, sich von ihrem Denken nicht abgrenzen zu können. So wird ein bestimmter Gedanke als unveränderliche Wahrheit anerkannt, der in Wirklichkeit eine verzerrte Wahrnehmung ist. Sie stecken in einer Falle, in der sie mit Denkverzerrungen, Perfektionismusansprüchen, Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten kämpfen und einen hohen Leidensdruck verspüren. Der Gedanke wird zu einem Riesen im Kopf, dem zu viel Platz eingeräumt wird.

Rund 2 Millionen Menschen sind hierzulande von Zwangserkrankungen betroffen, dabei sind vorläufige Phänomene, die kein Vollbild einer Diagnose ergeben, nicht eingerechnet. Zwänge werden von den Betroffenen häufig verheimlicht, im Schnitt vergehen 9 Jahre bis Patienten sich in professionelle Hilfe begeben. Neben Zwangshandlungen und -impulsen sind es die Zwangsgedanken, die in einer endlosen Grübelschleife den Alltag erschweren. Diagnostisch spricht man ab 2 Wochen von einer Störung, vorausgesetzt die Gedanken verursachen dem Betroffenen Leid und schränken ihn damit in seinem Alltag ein.

Leidensdruck und schädliches Verhalten machen dysfunktionales Denken zur Erkrankung

Weitere Kriterien sind Vermeidungsreaktionen als Folge  des Zwangsdenkens, Rituale zur Neutralisierung, wie z.B. Zählrituale. Aus  Scham die teils drastischen Gedanken preiszugeben (ich könnte mein Kind gefährden; ich könnte jemanden über das Brücken-Geländer stoßen), werden oft Selbstversuche eingeleitet, um dem sich aufdrängenden Gedankenspuk ein Ende zu machen. Ritualisiertes Abzählen oder Beten sollen die schlimme Vorausahnung verhindern, diese Entlastungshandlungen werden oft in endlosen Wiederholungen ausgeführt, und müssen in einer bestimmten, erdachten Art und Weise ablaufen. Ein damit einhergehender immenser Zeitaufwand führt zu (sozialen, beruflichen) Problemen. Termine, Arbeitsaufgaben, können nicht mehr erledigt werden, weil Handlungen zur Neutralisierung der Gedanken derart viel Zeit in Anspruch nehmen. Es vergehen Jahre – häufig erst nach einer Zuspitzung und mehreren Phasenverläufen- bis eine Therapie begonnen wird. Komorbide sind depressive Symptomatik und Angst-Erleben verstärkt zu beobachten.

Einige Tausend Gedanken zirkulieren in unserer Wahrnehmung- darunter ist viel Ausschuss

Einige Tausend Gedanken zirkulieren in unserer Wahrnehmung, es handelt sich um alte, bekannte Gedankenmuster und Neuheiten. Darunter befindet sich sehr viel Ausschuss. Im Unterschied zu Gesunden, bemisst der Mensch mit Zwangsdenken seinen Gedanken eine wesentlich stärkere Bedeutung zu. Das Katastrophisieren und Herbeibeschwören schlimmer Vorahnungen, die nicht realistisch sind, wird zum Reflex. Es ist der menschliche Geist und seine Fähigkeit zu Imaginieren, die den Gedanken zum Berg, Chaos, Riesen oder Monster machen. Von diesen Riesen wollen wir uns abwenden, zumindest in einen erträglichen Abstand treten. Das völlige Ausblenden oder Unterdrücken, lässt die Gedanken als Riesen, in der Vorstellung immer größer wirken.

Den Gedanken-Riesen keine Macht geben, wieder Chef im eigenen Kopf sein

Gedanken als solche haben jedoch keine „Macht“ über uns, und beinhalten auch keine vorhersehenden Qualitäten, die automatisch zutreffend sind. Sie sind nur ein vorläufiges Konstrukt, keine feststehende Wahrheit. Unsere Zukunft ist immer veränderlich, und muss nicht in einem vorgefertigten Schema verlaufen, bloß weil wir das denken.
Patienten wünschen sich, wieder die Macht (über ihr Denken) zu haben, wieder Herr oder Chef im Kopf zu sein. Einerseits sind die Gedanken  befremdlich (wo kommt das her, werde ich verrückt?) und andererseits werden sie im eigenen Gehirn erstellt. Dann muss es doch wahr sein, diese schlechten Gedanken, werden als ich-synton, als dem eigenen Ich stammend und zugehörig wahrgenommen.
Wichtig ist, sich klarzumachen, dass man im Zwangsdenken nicht chancenlos einer Situation ausgesetzt ist und bleibt, und dass man wieder Chef im Kopf wird. Und, dass der Zwang etwas zu tun oder zu denken, ein reaktiver Prozess ist, der sich im Vergleich zu einem massiven psychotischen Erleben (das medikamentiert werden müsste), mit verhaltenstherapeutischer Hilfe, gut händeln lässt.

Verhaltenstherapie und ein liebevoller Umgang mit sich selbst

Die emotionale Ebene bedarf einem liebevollen Umgang mit sich selbst, in dieser zunächst schwierigen Lage. Entspannung, Pausen, Übungen helfen dabei, sich den Bedingungen zu entledigen, die jene missliche Lage aufrechterhalten. Der eigene perfektionistische Anspruch, das Leistungsdenken, Stress, Anforderungen in Beruf, Schule oder Umfeld, sind günstige Faktoren für die Riesen und Monster unter den Gedanken. Neben der möglichen Umformulung von Gedanken ist es mit Assoziationsspaltung und Labeling möglich, den Gedanken zu entmachten, ihn, den Riesen im günstigsten Fall zu belächeln oder ihm einen neuen Anstrich zu verpassen.Über das Spalten der Assoziation gelingt es am Negativgedanken-Beispiel Krebs-unheilbar-krank-Tod durch den (Wieder-)Aufbau neutraler oder positiver Assoziationen, wie Krebs-Meerestier-Sommerferien, zum Abschwächen zwangbezogenener Assoziationen.

Den Gedanken-Riesen entmachten. Ich bin nicht meine Gedanken.

Metakognitiv sortiere ich mich folgendermaßen: Ich bin nicht meine Gedanken. Ich bin nicht gleichzusetzen mit meinen Gedanken. Meine Gedanken sind nicht (automatisch) die Wahrheit. Meine Gedanken sind keine wahre Voraussage für die Zukunft.Wir trennen uns von der automatischen Annahme, dass unsere Gedanken stets wahr sind. Der Wahrheitsgehalt unseres Denkens ist ein unsteter, wechselhafter Wert, und unsere Annahmen werden häufig wiederlegt! Wie oft haben wir uns schon geirrt: ich bin ganz bestimmt durch die Prüfung gefallen (sind wir nicht). Meine Freundin ist sauer auf mich, sie meldet sich gar nicht (ist sie nicht, sie hatte bloß sehr viel zu tun, und konnte sich nicht früher melden). Ich bin die einzige, die hier aufräumt (vielleicht tue ich besonders viel, aber häufig übersehe ich das Tun anderer, weil es in meine Bewertung passt). Es gibt hunderte solcher Beispiele, in denen das Gehirn (unbemerkt) gedanklichen Ausschuss produziert. In der Verhaltenstherapie nutzen wir den Sokratischen Dialog, um unsere Gedanken, Gefühle, Bewertungen und Automatismen auf den Prüfstand zu stellen.

Sokratisch hinterfragen: Ist ein Gefühl, eine Situation 100 prozentig und ohne Unterbrechung negativ?

Verhält sich die Situation tatsächlich zu 100 Prozent in der besagten Art? Eine Art Gedankenspiel und Interventionsmethode geht auch teils mit  provokativem Hinterfragen einher. „Sie sagen also, dass Sie den ganzen Tag grübeln, ohne Ausnahme. Wie ist es, wenn sie eine Tasse Kaffee umstoßen, was denken Sie in dem Augenblick?“ Hier soll der Patient nicht (als einer der übertreibt oder falsche Angaben macht) überführt oder gar vorgeführt werden. Es geht alleinig darum, festzustellen, dass der Gedankenriese „Ich grübel‘ den ganzen Tag, ohne Unterbrechung“ keine Allmacht ist, die nicht durchbrochen oder überwunden werden kann.Das Denkvermögen bei Zwangsdenken, ist vielmehr in eine Falle getappt, hat einen ungünstigen Weg eingeschlagen, schaut auf einen verzerrten, flackernden Bildschirm oder hat das falsche Menü gewählt.

Aus dem Gedanken-Riesen einen Schein-Riesen machen.

Wie kann ich aus dem Gedanken-Riesen einen Scheinriesen machen, der nur hin und wieder vorbei schaut, und mir keine, weniger oder kaum noch Angst macht?  Therapeutinnen setzen heute unter anderen die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)- eine Methode nach Steven Hayes- ein. Als Teilbereich positiver Psychologie werden Achtsamkeits und Akzeptanzstrategien, Werteklärung und innere Selbstverpflichtung bearbeitet. Das Imaginieren erwünschter Ziele, ist hier ebenso Bestandteil wie es im Rahmen der Lösungsfokussierten Therapie vorkommt.
Gleichzeitig wird dem vorhandenen Zwang ein gewisser, wenn auch wesentlich kleinerer Platz eingeräumt. Den Zwang zu leugnen, ist keine nachhaltige Option. Da verhält es sich ähnlich wie mit Michael Endes Scheinriesen, Herrn Tur Tur: je weiter Jim Knopf sich von ihm entfernt, umso größer erscheint er. Dem Zwang mutig gegenüberzutreten, ihm nahe genug sein, um ihn im Auge zu behalten und seine Größe zu bestimmen, ist realistischer, als ein vollständiges beseitigen.

Den Riesen im Auge behalten, den Gedanken nicht wegdrücken, sondern vorbeiziehen lassen.

Angewandte Metakognition in Bezug auf das persönliche Wahrnehmen, ist das Denken über das eigene Denken, über den Denkstil und verzerrte Wahrnehmung. Ich betrachte aus einer übergeordneten Position ungünstiges Reflektieren, und entlarve Denkfallen und -verzerrungen, die einen Zwang bedingen, ihm einen Nährboden bereiten. Um den Zwang nicht fortlaufend zu „füttern“,  bedarf es einer stabilen Stimmung und  den Abbau aufrechterhaltender Faktoren, wie das magische Denken (z.B. lange Zahlenketten durchzählen, bis das Unheil vermeintlich abgewendet ist). Zählen oder Ersatzhandlungen zählen zum Sicherheitsverhalten, dass der Patient anwendet und falsche Schlussfolgerungen erzeugen lässt: dass ich jetzt bis 100 gezählt habe, hat die Katastrophe verhindert. Die entlastende Wirkung von Sicherheitsverhalten, zu dem auch das Vermeiden zählt, ist nur von kurzer Dauer, und hat keinen langfristigen Wert. Das vollständige Wegdrücken oder Überlagern des quälenden Gedankens, lässt ihn paradoxerweise größer werden. Es empfiehlt sich – ihn in einer passiven Haltung -vorbeiziehen zu lassen. Den dysfunktionalen Gedanken vorbeiziehen zu lassen, wie einen Gewitterwolke, von der wir hoffen, dass sie sich auflöst oder weiterzeiht, soll dazu führen, das wir uns nicht gleich eine Meinung zu unserem Gedachten bilden. Schnelles Urteilen, kann im Arbeitsalltag sehr wichtig sein, oder bei Lebensgfahr. Vorschnelles Urteilen führt jedoch auch dazu, das sich ungünstige Annahmen verfestigen und zu kleinen, persönlichen Regeln ausbilden.

Fortsetzung folgt.

Der Abschiedsbrief an meinen Zwang. Ursachen von Zwängen: eine lieblose Kindheit ohne Aufmerksamkeit der Bezugspersonen, ein übertriebenes Verantwortungsgefühl, Perfektionismus und Wahrheitsanspruch (Suche und Sucht nach Wahrheit). All das sind Denkverzerrungen, und das ist die Art von Nahrung, auf die der Zwang „steht“. Dennoch weist nicht jeder Mensch mit Zwangsstörungen die gleichen sozialen Umstände oder biologischen Dispositionen auf. Es gibt keine einheitliche Zwangsbiografie, an der sich ein sicherer Verlauf ablesen ließe.