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Spezifische Angst: Emetophobie und psychosozial geprägtes Empfinden von Ekel und Scham

Die Emetophobie ist die Angst vor dem Erbrechen, und stellt eine spezifische Phobie dar, die in unserer Gesellschaft eher selten thematisiert wird. Im Allgemeinen wird diese Angsterkrankung kaum wahrgenommen und daher als weniger „nachvollziehbar“ akzeptiert, als im Vergleich zu einer Höhenangst, Angst vor Viren oder Flugangst.

Emetophobiker haben Angst sich zu übergeben, oder fürchten sich davor, dass andere es in ihrer Gegenwart tun. Auslösesituationen können harmlose Bemerkungen in Medien, Filmen oder Gesprächen sein, Einladungen zum Essen, zu Partys, Restaurantbesuchen und Festen. Betroffene vermeiden in der Folge häufig das soziale Miteinander, und zeigen in ihrem Angsterleben körperliche (somatisierte) Symptomatik, bis hin zu Panikattacken, in denen Patienten übergroßem Angst- und Derealisationsempfinden ausgesetzt sind. Einzelne Panikattacken können sich zu einer Panikstörung steigern.

Es gibt zahlreiche Angsterkrankungen, die in ihrer Ausprägung bekannt und in der Bevölkerung verbreitet sind. Die Angst vor Höhe, Spinnen, Viren, Blut und Spritzen sind vielen Menschen geläufig.

Die Angst, sich zu übergeben, die Emetophobie, zählt zu den spezifischen Phobien, und ist in Punkto Verbreitung und Bekanntheitsgrad kein medialer Spitzenreiter. Unbekannte Ängste sind für manche Betroffene noch stärker mit Scham verbunden, da als Feedback aus Familie, Umfeld und Medien wenig Akzeptanz aufgrund mangelnder Nachvollziehbarkeit erfolgt.

Scham bei unbekannten Phobien

Eine bekannte Phobie, wie die Angst vor Plätzen, die Agoraphobie, ist den meisten Menschen als Platzangst sofort ein Begriff. „Da kriege ich Platzangst“ ist ein gängiger Ausspruch, der sogar häufig in unpassenden Zusammenhängen Verwendung findet. Der Agoraphobiker hat wortwörtlich Platzangst (und nicht wie weit verbreitet,  Angst vor engen Räumen, vgl. Klaustrophobie). Gemeint ist die Angst, auf einem großen vollen Platz (griech. Agora) zu sein, und aus der  Situation mit vielen Menschen, nicht herauszukommen. Das bedrohende Gefühl ohne Notausgang zu sein, stellt sich ein. Dieses Gefühl kann praktisch jeder nachvollziehen.

Auch der Emetophobiker meidet u.U. große Menschenansammlungen. Das macht die Diagnostik und Abgrenzung zu anderen Phobien schwierig. Überschneidungen und Komorbidität existieren zur sozialen Phobie, Panikstörung, Agoraphobie, Anorexie, Zwangsstörungen und weitere. Zudem ist eine Diagnose die Momentaufnahme einer Störung, sie ist veränderlich und als kontinuierlicher Prozess zu sehen (Dorfmüller, Dietzfelbinger, Psychoonkologie, S. 36ff). Der Betroffene ist als Individuum multifaktoriellen Bedingungen ausgesetzt, die in einem persönlichen Stress-Modell, biografische Belastungen, Persönlichkeitsstrukrur, intrapsychische Konflikte und interpersonelle Aspekte zu erwägen sind.

Der Kontrollverlust über den (erbrechenden) Körper, über das Handeln und der unkontrollierte Ausdruck von Emotionen, ist ein gefürchteter Zustand. Normale somatische Geräusche wie Magen knurren, steigender Blutdruck oder Hungergefühl können Ängste und eine groß angelegte Verkettung von Angst und Verhaltensänderungen auslösen. Palpitationen, also Herzklopfen, und turbulentes Herzrasen (auch: Tachykardie), werden als Gradmesser einer sich verschlimmernden Situation gedeutet, und können in einer Panikattacke münden. Wenn der Körper schwitzt oder regelmäßig Druckgefühle im Oberbauch auftreten, muss es doch etwas zu bedeuten haben, so denkt ein alarmierter menschlicher Geist, dem es nicht gelingt, rationale Erklärungen anzunehmen.

Dabei sind funktionelle Störungen  Symptome, die sich keiner somatischen Ursache zuordnen lassen, in ihrer Intensität vollkommen echt, und keine Einbildung.

Emetophobie, sozialer Support und Auswirkungen auf das familiäre System

Die Angst, sich zu übergeben, die Emetophobie, ist weniger bekannt, da sie im Vergleich zu anderen Phobien seltener auftritt. Die Prävalenz ist mit 1 pro 1000 erfasst. Unbekannte Ängste sind daher für manche Betroffene noch stärker mit Scham verbunden. Auslöser können fremde Umgebungen, flüchtige Sinneseindrücke, feinste Gerüche oder eben die beschriebenen funktionellen Symptome sein.

Wird die Freizeit bereits an die Ängste angepasst, leiden in der Folge Partner, Familienangehörige, Sozial- und Berufsleben, Reiseverhalten und gesamte Lebensentwürfe unter dem Angsterleben. Der Beroffene erlebt dies in einer Art Fremdsteuerung. Derealisationsgefühle können auftreten, das Erleben fühlt sich unwirklich an, und das Erlebte kann Züge ferngesteuerter, automatisierter Verhaltensweisen annehmen.

Veranstaltungen, Partys, Familientreffen, spontane Ausflüge, geplante Reisen, Betriebsfeiern oder das Mittagessen mit den Kollegen, sind dem Patienten mit Emetophobie oft nicht möglich oder bereits seit Jahren ein Tabuthema. Vermeidungsstrategien vervollständigen ein automatisiertes Abwehrsystem, um sozialen Begegnungen auszuweichen. Das belastet nicht nur den Patienten und involvierte Bezugspersonen, sondern erfordert ungeplante und ungewollte Anpassungsleistungen aller Beteiligten. In der Folge wird ein gesamtes soziales System betroffen, beschränkt und verändert.

Die Angst vor der Angst lähmt den Patienten, der seinen potentiellen Haltungen, wie Neugierde, Vorfreude, Geselligkeit, Wagemut, dem Nachgehen von Interessen, sowie soziale und kulturelle Teilhabe nicht nachkommen kann. Es sind Haltungen und Handlungen begrenzt, die das Umfeld, als normal, selbstverständlich und natürlich empfindet: „wie kann es denn sein, dass die Tochter nicht am Essen zum 70. Geburtstag des Vaters teilnimmt“ oder „wieso sieht man den neuen Kollegen nie mit den anderen essen“.

Das Fundament einer Phobie bildet sich aus Scham, Unsicherheit, ungeklärten Auslösern und einem Kreislaufgeschehen im Denken und Handeln, das sich allein schwer unterbrechen lässt. Dem Patienten ist bewusst, das die Wahrscheinlichkeit eines Brechvorfalls gering ist, und das ein grosser Teil des Verhaltens Vorsichtsmaßnahmen und Vermeidung darstellen.

Irrationale Ängste sind in erster Linie genau dass: sie sind irrational und für den Verstand nicht greifbar.

Sozialer Support und Verständnis

Der soziale Support gerät ins Stocken. Nach anfänglicher Rücksichtnahme, dem echten Bestreben die Ängste der Betroffenen zu begreifen, und hilfreich zu sein, reagiert das Umfeld sukzessive mit leiser Resignation, wachsendem Unverständnis und Genervt-sein. Es wird schließlich „alles getan“, um dem Betroffenen zu helfen. Die Angst ist für einen Außenstehenden schlicht nicht nachvollziehbar.

Darauf zu warten, das „es“ passiert ist ein dysfunktionaler, falsch antrainierter Fokus, und ein Hauptgrund und Auslöser der Verkettung von Ängsten und wachsender Verhaltensinflexibilität. Die automatische Annahme „Ich könnte vor den Augen meiner Kollegen erbrechen“, führt dazu, daß das Essen und Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit (nahezu) eingestellt wird. Gut vernetzte und ausgebaute Datenstrecken mit Millionen synaptischer Verbindungen im Gehirn, geben dem automatischen, dysfunktionalen Gedanken eine sichere Basis, um als „perfekte“ Erklärung, als unumstößliche Wahrheit oder Bewertung in einer Auslösesituation  zu gelten. „Ich werde sicherlich brechen müssen auf dem Grillfest, das wäre so peinlich,  dann bin ich bei allen unten durch“. Psychisch sind neben dem Aspekt der Beschämung, auf emotionaler Ebene Wut und Kränkung feststellbar.

Genderspezifik und Rollenmuster

Psychische und kognitive, wie auch genderspezifische Entwicklung, ist in Prävention, Diagnostik und Therapie stets mitzudenken. Die Emetophobie tritt häufiger bei  Frauen auf, als bei Männern.

Die Rollendefinition und Sozialisierung von Mädchen und Frauen manifestiert sich (immer noch) in einem Bild der fürsorglichen, emotionalen, sozialen, zurückgenommenen und disziplinierten, typisch weiblich zugeschriebenen Rolle. Bei gleichzeitiger Definition über den männlichen Partner, statt über das eigene Ich, läuft diese Form der Geschlechterdifferenzierung und  Selbstabwertung, auf unbewusster Ebene ab. Der Mann bleibt in Teilen der Gesellschaft der Ernährer, der wichtige Hauptverdiener und Macher, der zum Stressausgleich auch einmal (mit Alkohol) über die Stränge schlagen darf. Er orientiert sich an eigener Leistung und definiert sich viel stärker als eigenständige Person. Während der erste Rausch und damit ggf verbundenem Erbrechen männlicher Heranwachsender eher toleriert wird, sind alkoholkonsumierende Mädchen, die sich übergeben, gesellschaftlich weniger akzeptiert.

Eine höhere Sensitivität für Ekel wird Mädchen und Frauen oft von der Kindheit an implementiert, vorgelebt und automatisch zugeordnet. Anstatt bei einem Kind zunächst von einem freien, neutralen Empfinden auszugehen, werden starre Rollenmodelle psychosozial bewusst und unbewusst übertragen.

Das auch Frauen sich in der Öffentlichkeit ungeniert und selbstverständlich übergeben könnten, ist in der britischen Serie Little Britain bis ins Absurde inszeniert. Eine ältere Dame, die sich in der Gemeinde über Wohltätigkeit für ihre Mitmenschen definiert, übergibt sich in irrealen Fluten von Erbrochenem, sobald ihr zum Dank Gebäck (von dunkelhäutigen Kindern) angeboten wird. Die Serie wird zwischenzeitlich in ihrer Maßlosigkeit und Darstellung rassistischer Tendenzen kontrovers gesehen, zeigt jedoch sehr genau auf automatische Annahmen über Ekel und Empfindungen, die mit Essen und Erbrechen einhergehen.

Allein das Denken an Essen, die Überlegung, wer das Essen zubereitet hat, die Szene in einer Serie und Gerüche sind für Emetophobiker eine Qual. Auch der Gedanke daran, das andere Personen „es tun“ könnten, reicht als Auslöser für quälende Grübelschleifen, Vorsichtsmaßnahmen und Rückzugsverhalten.

Haltung und Akzeptanz, das Überwinden von Passivität

Dysfunktionales Coping beinhaltet das Entwickeln unzureichender  Bewältigungsstrategien und den ungeeigneten Umgang mit der Erkrankung. Dabei stellen sich häufig Fragen nach der erfolgten Akzeptanz des Problems und inwieweit der Patient im der Lage ist eigenständig Lösungen und Perspektiven zu erarbeiten. Funktionales Coping setzt Haltung und Akzeptanz bei gleichzeitiger Überwindung von Passivität voraus. Es ist bequem, in schlecht funktionierender Problembewältigung zu verharren, auch deshalb, weil das Individuum geübt darin ist.

Therapeutische Methoden

Wie ist es möglich den (wenigen, manchmal kaum sichtbaren) verbliebenen Positivaspekten mehr Gewicht zu verleihen? Welche Ressourcen stehen zur Verfügung – intrapersonell und interpersonell- und ist der Betroffene in der Lage seine persönlichen Stärken und Mental-Vorräte zu erkennen und zu nutzen?

In der Verhaltenstherapie wird den spezifischen Phobien mit Konfrontation in realen Situationen (Exposition in vivo) oder in vorgestellter Exposition (in sensu) begegnet.

Etwa die Angst vor dunklen Räumen, kann so Schritt für Schritt geübt werden (der Patient tastet sich langsam heran und steigert sich, in dem ein dunkler Keller zunächst bis zur Treppe aufgesucht wird). Die reale Situation ist im Fall der Emetophobie schwierig herbeizuführen, in der Vorstellung oder mit Hilfe von Filmmaterial kann jedoch gearbeitet werden. Den Szenen sich im Beisein des Therapeuten auszusetzen, ist eine Form der schrittweisen Desensibiliserung. Es werden Rankings der schwierigen Auslösesituationen erstellt, die im behutsamen sich Aussetzen, in den Therapiesitzungen abgearbeitet werden. Hinzu kommen Entspannungsverfahren und Atemübungen, die präventiv  in künftigen Krisensituationen hilfreich sind, diese zu bewältigen.

Eine wichtige Methode ist die kognitiv-therapeutische Aufarbeitung, der Auslöser und Gedanken, die zum unerwünschten Verhalten führen. Die kognitive Verhaltenstherapie bietet Interventionen und Modelle, die der Angst, und den neuronalen Manifestationen der Angst, alternative Denkstrukturen anbieten. Neue synaptische Datenverknüpfungen sollen die dysfunktionalen Dateneinheiten verdrängen bzw. so modifizieren, daß sie sich nicht mehr als einzig wahre Annahme durchsetzen. Angefangen beim ABC Modell, mit dessen Hilfe genau diese Überzeugungen (Beliefs) und automatischen Gedanken herausgearbeitet werden, die wiederum zu unerwünschten Folgen (Consequences) führen. Im sokratischen Dialog (wie realistisch sind jene Annahmen?), bietet die Therapie eine Arbeitsfläche, um die individuelle Wahrnehmung zu prüfen.

Achtsamkeit und LSOT als therapieübergreifende Methode

In der therapeutischen Arbeit ist die strenge Abgrenzung der Therapierichtungen nicht mehr so ausgeprägt wie in ihren Anfängen, als Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie separate Lager darstellten. So wird dem Patienten in Ergänzung zur (kognitiven) Verhaltenstherapie interdisziplinär angeboten, was sinnvoll erscheint, und nach Möglichkeit ein individuell passendes Konzept zugeschnitten. Auch in den Kliniken ist die Arbeit mit Achtsamkeitsübungen und Entspannungsverfahren angekommen.

Ein wichtiger therapeutischer Baustein für das Lösen kognitiver Negativ-Strukturen und Kreisläufe, ist zudem die lösungsorientierte Therapie (vgl. LOT Berg, Steiner;SFBT de Shazer), die in ihrer Ausrichtung den Fokus auf zukünftig gewünschtes Geschehen lenkt. Es kann einem Patienten, der sich in einer emotionalen Krise befindet, sehr hilfreich sein, sich die ersehnte Zukunft in therapeutisch angeleiteten Übungen intensiv vorzustellen. Dabei werden neue synaptische Verbindungen oder Gedankenpfade erzeugt, die bei regelmäßiger Anwendung, ein Gegengewicht  zu den dysfunktionalen Denkstrukturen bilden.

Mentale Entspannungsübungen, wie die imaginierte geistige Reise an einen „sicheren Ort“, kann dem Patienten in einer Angstsituation helfen, sich aus der  Rumination quälender Gedanken zu entfernen. Langfristig trainierte Muskelentspannungsübungen (PMR) können den Fokus in einer Krise umlenken, indem sich der Patient auf das einfache Anspannen-Entspannen der Körperpartien konzentriert.