Zum Inhalte springen

Im Newsfeed finden sich Beiträge zum Thema Therapie, Lebenskrisen, Ängste, Trauerarbeit, Beziehungsprobleme, Existenzängste und weitere. Schreiben Sie mir eigene Themenvorschläge. Ihre Anja Bourgeois.

Autismus Spektrum: Eine Neuro-Diversität mit Einschränkungen und Potenzialen

Das Diagnosesystem ICD 11 versucht sich an einer neuen Zuordnung

Das hat mancheiner sicher schon gehört: Autistische Züge werden vielen Menschen attestiert. Sei es als scherzhafte Bemerkung oder als konkreter Hinweis gemeint - was verbirgt sich hinter den Begriffen und was ist der Unterschied zur Diagnose einer Autismus Spektrumsstörung (ASS)?

Im Bereich der Psyche und daraus resultierendem Verhalten, sind Scherze und Küchenpsychologie selten hilfreich. Zahllose Online-Veröffentlichungen, Plattformen, Zeitschriften und Ratgeber zur persönlichen Selbstoptimierung boomen. Unsere überinformierte Gesellschaft, erlangt viele Erkenntnisse und stellt sich oft schon Eigendiagnosen, bevor eine fachliche Meinung eingeholt wird. Verunsicherung, Ängste vor einer ernsthaften psychischen Erkrankung werden über lange Zeiträume gedanklich und teils auch in physischer Form herangezüchtet, bis der Leidensdruck überhand nimmt. Schlafstörungen, Depressionen, Ängste und Zwänge sind nur einige komorbide Zustände, die mit der ASS auftreten können.

Autistische Züge auf dem Spektrum (fast) aller Menschen

Was Nicht-Autisten als autistische Züge an sich und anderen erkennen, bietet eine Art Vorgeschmack, auf die Erlebniswelt eines Autisten. Erhöhte Detailwahrnehmung, besondere Ordnungsliebe, Verlässlichkeit und erhöhte Kreativität- dass hört sich doch positiv und eher erstrebenswert, und nicht pathologisch an. Wenn wir es mit gestörter Interaktion aufgrund von Mißdeutung sozialer Konventionen, mit beeinträchtigter Kommunikation und Sprache, und wiederholt, stereotypen Verhaltensweisen sowie Interessen zu tun haben, deuten wir es nicht mehr so positiv. Ein autistischer Zug kann bei einem Nicht-Autisten bedeuten, dass er keinesfalls verschiedenfarbige Socken bei sich dulden würde, und wir diese kleine Marotte in gewisser Art liebenswert finden. Bei einem Autisten kann das Vertauschen der Socken, das Durcheinanderwirbeln seiner Gewohnheiten bedeuten, und große Konfusion und auch Aggressionen hervorrufen.

Neurodiversität oder Erkrankung

Ein Teil der Autisten weigert sich, in ihrer Neurodiversität eine Erkrankung zu sehen. Das Vorkommen von ausgeprägten Spezialinteressen, die einen erwachsenen Autisten in einem Fachgebiet seines Interesses zu einem Experten machen können, unterscheidet sich ganz klar von frühkindlichen Formen, die starke körperliche und geistige Beeinträchtigungen verursachen können. Autisten sind keine homogene Gruppe.Vielfalt und Ausprägung sind hoch verschieden. Die neueste Klassifizierung, die Autismus-Spektrumsstörung, nach dem Diagnosesystem der ICD 11, orientiert sich stärker am amerikanischen System zur Erfassung psychischer Erkrankungen und Diversitäten, dem DSM 5. Das Spektrum signalisiert zunächst einmal, dass Menschen sich auf einem breiten Feld der Ausprägung und Stärke verorten lassen, und eine Zuordnung niemals statisch zu betrachten ist. Neben den häufig im Vordergrund stehenden Einschränkungen im Sozialverhalten, Lernschwierigkeiten und körperlichen Beeinträchtigungen, gibt es eine ganze Reihe von positiven Aspekten und Charaktereigenschaften im Lebensspektrum eines Menschen mit Autismus.

Positive Persönlichkeitseigenschaften hervorheben

Ohne schwerwiegende Ausprägungen verharmlosen zu wollen: Aus Therapeutensicht macht es ohnehin sehr viel mehr Sinn, die Fähigkeiten eines Menschen zu betrachten, als sich ausschließlich und intensiv mit dem Nicht-Vorhandenen bestimmter physischer und psychischer Eigenschaften auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es viele Komorbiditäten wie Entwicklungskoordinationsstörungen, Epilepsie, Neurotransmitter-Anomalien, Zwangsstörungen, Zwangsstörung der Persönlichkeit, Psychosen und Schizophrenie, Schizoide Persönlichkeitsstörungen, Sensorische Probleme, Tinnitus, Tourette-Syndrom, Geistige Behinderung und ADHS. Im Bereich der persönlichen Eigenschaften vieler Autisten gibt es gefragtes Potenzial: Verlässlichkeit, Genauigkeit, Beharrlichkeit, Fokussierung auf Spezialinteressen, Kreativität, hohe Gedächtnisleistung, Ordnungsliebe und das Vermeiden nutzloser Unterhaltungen. Es ist wahr, dass Autisten bildhafte Sprache häufig nicht oder schwer deuten können, und gemeinhin witzig gemeinte Bemerkungen nicht verstehen. Metaphorisch und durch die Blume gesprochen, irritiert den Autisten, weil es seiner präzisen Ausrichtung widerspricht. Den üblichen Umgangston einer Gesellschaft, die medial und im Privaten praktisch alles und jeden durch den Kakao zieht (beim Kakao würde die Irritation für den Autisten bereits beginnen), in der manche Respektlosigkeit als Humor deklariert wird, muss ein Autist mühsam erlernen (vorausgesetzt es ist der Wunsch, gesellschaftlich so angepasst wie möglich zu sein). Bewerte ich also das konkretistische Denken als unkommunikativ, nicht schwingungsfähig oder bin ich froh, dass mir Geschwafel und Small-Talk erspart bleibt?

Menschen aus dem Autismusspektrum: Integration durch Nachempfinden und Zurückhaltung

Jeder Autist ist anders: Das ist eine der zentralen Aussagen, die im Gespräch mit Eingeweihten fast immer fällt. Autisten leben in ihrer eigenen Welt. Was für Nicht-Autisten ein leicht unangenehm kratzendes Kleidungsstück ist, kann den Autisten in eine grauenhaft taktile Wahrnehmung einer Hülle wie aus Schleifpapier oder kratzigem Klettband darstellen. Sensorische und tiefensensorische Wahrnehmung ist eine der Eigenschaften aus dem Cluster der Autismus- Erleben. Autismus kann simpel als Variation des neurotypischen, dem vorherrschenden Erleben betrachtet werden, und ist weniger akzeptiert, weil der Kreis der  Betroffenen eine gesellschaftliche Minderheit darstellt. Das jeder Autist verhaltensauffällig ist, zählt zur Legende einer Erkrankung, die für viele erwachsene Betroffene oder deren Umfeld, gar keine Krankheitsdiagnose oder Pathologie darstellt.

Der Autist als schwieriger Mensch als Folge von Überforderung.

Schwierige Verhaltensmerkmale, sind ein sekundäres Merkmal, und treten häufig erst in Folge von Überforderung, sozialer Überlastung und nervösem Stress auf. Dabei ist nicht das autistische Spektrum ursächlich  für aggressive Reaktionen, sondern eher ein Nährboden für eine natürliche Bewältigung in einer als bedrohlich und unsicher wahrgenommenen Umgebung. Die Wahrnehmung eines Autisten ist eben um ein Vielfaches verstärkt, und zeigt sich in einer Intensität, die vielen neurotypischen  Menschen in einem  vergleichbaren,  persönlichen Vulnerabilitätsstressmodell,  eine Art Überraktion verursachen würde. Dabei stellt der Grad der Vulnerabilität bzw. der Verletzlichkeit, ein Überschreiten der persönlichen Bewältigungskapazitäten dar, der wie bei einem überlaufenden Fass, entsprechende Reaktionen wie Aggressionen, Traurigkeit dar.

Wann läuft ein Fass über: die Vulnerabilität und Toleranzgrenze ist individuell- bei Autisten und bei Nicht-Autisten.

Man stelle sich vor, das ein als autistisch diagnostizierter Jugendlicher sich so ähnlich fühlen muß, wie wenn man uns in einen kratzenden Pullover steckte, den wir entnervt ausziehen und von uns schleudern, uns gleichzeitig die Heizung in der eiskalten Wohnung abgedreht wurde- schließlich sind wir selber Schuld, wenn wir den wärmenden Pullover nicht anziehen wollen. Zusätzliche Stressoren: uns würde individuell nervtötend eine Form von lautstarker Musik oder schrillen Tönen aufgezwungen, die wir absolut furchtbar finden. Eine rethorisch gemeinte Frage: Würden wir uns dann konzentriert, entspannt oder schwingungsfähig im Umgang mit anderen fühlen? Eher nicht. In etwa so kann man sich als Nicht-Autist ein mögliches Szenario vorstellen. Die Autisten sind eine Minderheit in unserer Gesellschaft. Derzeit wird ein weltweites Aufkommen, eine Prävalenz von 0,6% bis 1% angenommen. Bei Jungen und Männern tritt Autismus viermal häufiger auf, als bei Mädchen und Frauen. Und, biologisch betrachtet: Ein Nicht-Autist, ist schließlich nur eine Variation eines autistisch geprägten Menschen und umgekehrt, und dass sich eine Gesellschaft am so genannten neurotypischen Menschen orientiert, resultiert aus dem Denken und Bewerten einer Mehrheitsgesellschaft.

 

Ein Autist kann Gesichtsausdrücke nicht intuitiv deuten. Soziale Schwierigkeiten sind oft die Folge.